Im Westteil Berlins hatte sich die Psychiatriereform in den verschiedenen Bezirken seit Mitte und Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts sehr unterschiedlich entwickelt. In einigen Bezirken waren neue Projekte initiiert worden; erste neue Einrichtungen wie Wohngemeinschaften, Kontakt- und Beratungsstellen und Übergangsheime entstanden. In Reinickendorf begann diese Entwicklung recht spät. Noch Mitte der 80er Jahre standen neben dem Sozialpsychiatrischen Dienst am Gesundheitsamt nur zwei Wohngemeinschaften, eine neu gegründete Kontakt- und Beratungsstelle sowie die große Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik zur Verfügung.
Die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik (KBoN) war viele Jahre lang für mehrere Bezirke Berlins aufnahmeverpflichtet gewesen; erst nach und nach wurden neue psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern gegründet, die dann die Behandlung der Bürger ihres Bezirks übernahmen. In diesen Jahren befand sie sich, ähnlich wie viele andere große psychiatrische Fachkrankenhäuser im Übergang von der alten „Anstalt“ mit entsprechenden Strukturen (Stationen nach Geschlechtern getrennt, über 1200 Betten in verschiedenen Abteilungen, große arbeitstherapeutische Bereiche bis hin zur inneren Infrastruktur mit Laden, Friseur, Bibliothek u. a., um dauerhaftes Leben in der Anstalt zu ermöglichen) zu einem Krankenhaus, das die Behandlungsqualität in den Mittelpunkt der Arbeit stellt. Erst Mitte bis Ende der 80er Jahre wurde die Klinik in den inneren Strukturen reformiert, Tageskliniken außerhalb des Klinikgeländes wurden eröffnet, die Stationen bildeten sich um, die personelle Situation verbesserte sich und es entstand das Bewusstsein, dass ein Krankenhaus kein Ort zum dauerhaften Leben sei.
Für nahezu alle schwer akut oder chronisch psychisch kranken Bürger des Bezirks Reinickendorf mit über 250.000 Einwohnern bedeutete die damalige Situation des Mangels an Alternativen, entweder längerfristig in der Klinik behandelt zu werden, also dort zu leben, oder weiterführende Hilfen außerhalb Reinickendorfs in Anspruch nehmen zu müssen. Häufig wurden für Menschen mit längerem Behandlungsbedarf Plätze in Altenheimen, psychiatrischen Übergangsheimen oder in einer der schon recht zahlreichen Wohngemeinschaften irgendwo in Berlin gesucht. Für die davon betroffenen Menschen bedeutete dies in aller Regel, sich bei den Einrichtungen oder deren Trägern einem Bewerbungsverfahren um einen „Wohnplatz“ unterziehen zu müssen und selten in der Nähe ihres angestammten Lebensbereichs angemessene Hilfen erhalten zu können.
Im damaligen Bezirk Wedding, für den die KBoN ebenfalls das zuständige aufnahmeverpflichtete psychiatrische Krankenhaus war, standen zwar schon früh mehr Angebote als in Reinickendorf zur Verfügung, durch die „Bewerbungssituation“ waren aber auch in diesem Bezirk nicht wenige Menschen auf Hilfen in anderen Bezirken angewiesen. Seinerzeit waren diese Bewerbungsverfahren durchaus üblich, denn einer großen Zahl von hilfesuchenden Menschen stand nur eine geringe Zahl von Angeboten gegenüber.
Diese Angebote waren sehr häufig aus einem bestimmten Interesse von aktiven und engagierten Mitarbeitern und Studenten entstanden, die meist ein besonderes Konzept, also z. B. Hilfen für eine definierte Zielgruppe oder feste Regeln in der Wohngruppe, realisieren wollten. Diese Konzepte sollten dazu dienen, den Menschen, die sich auf die Wohngruppe einließen, im Sinne von Förderung und Rehabilitation möglichst intensiv zu helfen. Jede Art von einrichtungsbezogenem Konzept erfordert aber eine Auswahl von geeigneten Menschen für das Konzept. Daraus resultieren dann die Vorstellungsgespräche bei den Vereinen und in den Gruppen. Wer nicht ins Konzept passte, wurde eben nicht aufgenommen und musste weitersuchen. Daher war es nicht weiter verwunderlich, dass es gerade die Menschen mit vielfältigen Problemen sehr schwer hatten, ein geeignetes Angebot zu finden und deshalb oft in der Klinik bleiben mussten. Manche dieser Menschen kamen auf diese Weise zu Krankenhausaufenthaltsdauern von dreißig und mehr Jahren.
Neben den psychisch erkrankten Menschen lebte in der Klinik eine große Zahl von Menschen mit einer geistigen Behinderung, die im Laufe ihres Lebens aus Heimen, Kinderheimen – im Einzelfall auch aus Familien – in die Klinik gebracht worden waren, weil sie als „zu schwierig“ für „normale“ Heime galten und/oder von den Heimen nach einem Aufenthalt in der KBoN nicht wieder aufgenommen worden waren.
In ähnlicher Weise lebten in der Abteilung für Abhängigkeitskranke chronisch suchtkranke Menschen, die immer wieder rückfällig geworden waren und daher auch in Heimen nicht aufgenommen bzw. nach kurzer Zeit wieder in die Klinik zurückgebracht wurden.